Ungekürztes Werk "Die Räuber" von Friedrich Schiller (Seite 56)

fast kennen solltest? Daß dir einmal die Decke von den Augen fallen würde – daß – was? Davon sollt er dir niemals gesagt haben?

DANIEL. Nicht das mindeste.

FRANZ. Daß gewisse Umstände ihn abhielten – daß man oft Masken nehmen müsse, um seinen Feinden zuzukönnen – daß er sich rächen wolle, aufs grimmigste rächen wolle?

DANIEL. Nicht einen Laut von diesem allem.

FRANZ. Was? Gar nichts? Besinne dich recht. – Daß er den alten Herrn sehr genau – besonders genau gekannt – daß er ihn liebe – ungemein liebe – wie ein Sohn liebe –

DANIEL. Etwas dergleichen erinnere ich mich von ihm gehört zu haben.

FRANZ (blaß). Hat er, hat er wirklich? Wie, so laß mich doch hören! Er sagte, er sei mein Bruder?

DANIEL (betroffen). Was, mein Gebieter? – Nein, daß sagte er nicht. Aber wie ihn das Fräulein in der Galerie herumführte, ich putzte eben den Staub von den Rahmen der Gemälde ab, stand er bei dem Porträt des seligen Herrn plötzlich still, wie vom Donner gerührt. Das gnädige Fräulein deutete drauf hin, und sagte: ein vortrefflicher Mann! Ja, ein vortrefflicher Mann, gab er zur Antwort, indem er sich die Augen wischte.

FRANZ. Höre Daniel! Du weißt, ich bin immer ein gütiger Herr gegen dich gewesen, ich hab dir Nahrung und Kleider gegeben und dein schwaches Alter in allen Geschäften geschonet!

DANIEL. Dafür lohn Euch der liebe Herrgott! und ich hab Euch immer redlich gedienet.

FRANZ. Das wollt ich eben sagen. Du hast mir in deinem Leben noch keine Widerrede gegeben, denn du weißt gar zu wohl, daß du mir Gehorsam schuldig bist in allem, was ich dich heiße.

DANIEL. In allem von ganzem Herzen, wenn es nicht wider Gott und mein Gewissen geht.

FRANZ. Possen, Possen! Schämst du dich nicht? Ein alter Mann, und an das Weihnachtsmärchen zu glauben! Geh Daniel! das war ein dummer Gedanke. Ich bin ja Herr. Mich werden Gott und Gewissen strafen, wenn es ja einen Gott und ein Gewissen gibt.

DANIEL (schlägt die Hände zusammen). Barmherziger Himmel!

FRANZ. Bei deinem Gehorsam! Verstehst du das Wort auch? Bei deinem Gehorsam befehl ich dir, morgen darf der Graf nimmer unter den Lebendigen wandeln.

DANIEL. Hilf, heiliger Gott! Weswegen?

FRANZ. Bei deinem blinden Gehorsam! – und an dich werd ich mich halten.

DANIEL. An mich? Hilf selige Mutter Gottes! An mich? Was hab ich alter Mann denn Böses getan?

FRANZ. Hier ist nicht lang Besinnszeit, dein Schicksal steht in meiner Hand. Willst du dein Leben im tiefsten meiner Türme vollends ausschmachten, wo der Hunger dich zwingen wird, deine eigene Knochen abzunagen, und der brennende Durst, dein eigenes Wasser wiederzusaufen? – Oder willst du lieber dein Brot essen in Frieden, und Ruhe haben in deinem Alter?

DANIEL. Was, Herr? Fried und Ruhe im Alter, und ein Totschläger?

FRANZ. Antwort auf meine Frage!

DANIEL. Meine grauen Haare, meine grauen Haare!

FRANZ. Ja oder Nein!

DANIEL. Nein! – Gott erbarme sich meiner!

FRANZ (im Begriff zu gehen). Gut, du sollst’s nötig haben.

(Daniel hält ihn auf und fällt vor ihm nieder.)

DANIEL. Erbarmen, Herr! Erbarmen!

FRANZ. Ja oder nein!

DANIEL. Gnädiger Herr! Ich bin heut einundsiebenzig Jahre alt, und hab Vater und Mutter geehret,

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