Ungekürztes Werk "Die Räuber" von Friedrich Schiller (Seite 72)

weg! Was rüttelst du mich so, scheußliches Totengeripp? – Die Toten stehen noch nicht auf –

DANIEL. O du ewige Güte! Er hat den Verstand verloren.

FRANZ (richtet sich matt auf). Wo bin ich? – Du, Daniel? Was hab ich gesagt? Merke nicht drauf! Ich habe eine Lüge gesagt, es sei was es wolle – komm! hilf mir auf! – es ist nur Anstoß von Schwindel – weil ich – weil ich – nicht ausgeschlafen habe.

DANIEL. Wär nur der Johann da! Ich will Hilfe rufen, ich will nach Ärzten rufen.

FRANZ. Bleib! Setz dich neben mich auf diesen Sofa! – So – Du bist ein gescheiter Mann, ein guter Mann. Laß dir erzählen.

DANIEL. Itzt nicht, ein andermal! Ich will Euch zu Bette bringen, Ruhe ist Euch besser.

FRANZ. Nein, ich bitte dich, laß dir erzählen und lache mich derb aus! – Siehe, mir deuchte, ich hätte ein königlich Mahl gehalten, und mein Herz wär guter Dinge, und ich läge berauscht im Rasen des Schloßgartens, und plötzlich – es war zur Stunde des Mittags – plötzlich, aber ich sage dir, lache mich derb aus! –

DANIEL. Plötzlich?

FRANZ. Plötzlich traf ein ungeheurer Donner mein schlummerndes Ohr; ich taumelte bebend auf, und siehe, da war mir’s, als säh ich aufflammen den ganzen Horizont in feuriger Lohe, und Berge und Städte und Wälder wie Wachs im Ofen zerschmolzen, und eine heulende Windsbraut fegte von hinnen Meer, Himmel und Erde – da erscholl’s wie aus ehernen Posaunen: Erde, gib deine Toten, gib deine Toten, Meer! und das nackte Gefild begonn zu kreißen, und aufzuwerfen Schädel und Rippen und Kinnbacken und Beine, die sich zusammenzogen in menschliche Leiber und daherströmten unübersehlich, ein lebendiger Sturm. Damals sah ich aufwärts, und siehe, ich stand am Fuß des donnernden Sina, und über mir Gewimmel und unter mir, und oben auf der Höhe des Bergs auf drei rauchenden Stühlen drei Männer, vor deren Blick flohe die Kreatur –

DANIEL. Das ist ja das leibhaft Konterfei vom Jüngsten Tage.

FRANZ. Nicht wahr, das ist tolles Gezeuge? Da trat hervor einer, anzusehen wie die Sternennacht, der hatte in seiner Hand einen eisernen Siegelring, den hielt er zwischen Aufgang und Niedergang und sprach: Ewig, heilig, gerecht, unverfälschbar! Es ist nur eine Wahrheit, es ist nur eine Tugend! Wehe, wehe, wehe dem zweifelnden Wurme! – Da trat hervor ein Zweiter, der hatte in seiner Hand einen blitzenden Spiegel, den hielt er zwischen Aufgang und Niedergang und sprach: Dieser Spiegel ist Wahrheit; Heuchelei und Larven bestehen nicht. – Da erschrak ich und alles Volk; denn wir sahen Schlangen- und Tiger- und Leopardengesichter zurückgeworfen aus dem entsetzlichen Spiegel. – Da trat hervor ein Dritter, der hatte in seiner Hand eine eherne Waage, die hielt er zwischen Aufgang und Niedergang und sprach: Tretet herzu, ihr Kinder von Adam – ich wäge die Gedanken in der Schale meines Zornes und die Werke mit dem Gewicht meines Grimms!

DANIEL. Gott erbarme sich meiner!

FRANZ. Schneebleich stunden alle, ängstlich klopfte die Erwartung in jeglicher Brust. Da war mir’s, als hört ich meinen Namen zuerst genannt aus den Wettern des

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